Das Orakel – Leseprobe

Leon Lubing

Das Orakel


Kommt, lassen wir uns nieder, um Berechnungen über die Götter anzustellen.“
Abu Jafar Muhammad ibn Musa al-Tao

1

„Tao, du bist dran abzulegen.“ Anubis, der mir gegenüber saß, spitzte den Mund seines feisten Schakalgesichts, wodurch er hinlänglich zum Ausdruck brachte, dass er sich wie alle anderen Götter den Menschen überlegen fühlte.
Ich drehte meinen Kopf nach links und lächelte Maat zu. Ein Lächeln brachte ich nur in ihre Richtung zuwege, da Ammit, die rechts von mir saß, in einem fort gähnte und mit jedem Gähnen einen fauligen Geruch ausstieß. Wenn ich den Atem anhielt und mich ihr zuwandte, konnte ich durch die hellbraune Wolke des Gestanks die verrottenden Fleischfetzen in ihren Zahnzwischenräumen erkennen, darunter frische, die gerade erst dazugekommen waren, und alte, die schon etliche Tage in ihrem Gebiss fest hingen. Zusammen füllten sie jede nur denkbare Lücke ihres Ober- und Unterkiefers aus, jede Ritze und jeden Spalt, während sie der starke Luftstrom des Gähnens hin und her bewegte wie verstreute Wasserpflanzen, die zwischen Kieseln am Grund eines Flusses wachsen.
Maat hob kurz ihre gewaltigen Flügel und lächelte zurück. Aus professioneller Gewohnheit legte sie in ihr Lächeln immer einen Ausdruck unendlicher Gerechtigkeit und Wahrheit; ein Ausdruck, der die Straußenfeder auf ihrem Kopf noch prächtiger erscheinen ließ und dafür sorgte, dass die in einer Reihe anstehenden und auf ihren Urteilsspruch wartenden Ägypter Maat die irdenen Gefäße mit ihren Herzen folgsam aushändigten.
Mit der Arbeit der drei Götter konnte ich mich beim besten Willen nicht anfreunden. Anubis führte die verstorbenen Ägypter ins Totenreich, wo sie von einem aus zweiundvierzig Gott­heiten zusammengesetzten Geschworenengremium angehört wurden. Danach übernahm Maat das Wiegen ihrer Herzen. Geriet die Waage aus dem Gleichgewicht, dann hatte das gewogene Herz Pech gehabt und wurde von Ammit mit einem Bissen verschlungen. Herzen waren ihre Leibspeise, vor allem diejenigen, auf denen schwere Verbrechen lasteten und die deshalb groß und fett waren. Sie hätten ordentlich Biss und seien wunderbar saftig, meinte Ammit. Und weil sie jeden Tag tausende und abertausende von Herzen fressen musste, sich danach aber nie die Zähne putzte, stank es aus ihrem Maul wie aus keinem anderem im ägyptischen Pantheon.
Bevor wir mit dem Kartenspiel begannen, hatte mich Anubis ziemlich aufgebracht zur Rede gestellt, was mir an seinem Beruf denn so missfalle. Die Waage, mit der die Herzen gewogen werden, sähe zwar recht plump aus, aber weil er sie jeden Tag gewissenhaft warte, arbeite sie äußerst präzise. Nie habe es irgendwelche Abweichungen gegeben. Und was ihn und seine Kollegen als Amtsträger betreffe, so erledige jeder von ihnen seine Aufgaben unparteiisch und gerecht. Das Annehmen von Bestechungsgeldern oder andere Formen der Korruption kämen bei ihnen nicht vor. „Wir alle sind nämlich Götter, musst du wissen, daher haben wir Stil und Charakter.“ Anubis richtete seine spitzen Ohren auf, offenbar schickte er sich an, mich restlos zu überzeugen. Obwohl ich kein Sohn Ägyptens bin und auch keinen besonderen Respekt vor den Göttern dieses Landes habe, kam Anubis gern zum Plaudern bei mir vorbei. Jedes Mal wenn die Jahreszeit der Nilüberschwemmung anbrach, bat er um Urlaub, stieg zur Erde hinab und suchte mich in meinem Haus auf, wo wir dann über Licht und Dunkelheit und andere Fragen diskutierten. Auch wenn ich wirklich nicht die geringste Ahnung vom hier verbreiteten Zoroastrismus habe, ging Anubis unbeirrbar davon aus, dass ich als Perser mit dieser Religion vertraut sein musste wie mit den Taschen meines Gewandes. In der Hoffnung, mir irgendwann Informationen darüber entlocken zu können, verzögerte er ein ums andere Mal den Tag, an dem ich Osiris, dem König des Totenreichs, am Westufer des Nils begegnen sollte. Schließlich verhandelte er kurz entschlossen mit ihrem Obergott Ra und überredete ihn dazu, mir das ewige Leben zu schenken. Seither kann ich, wenn ich will, bis ans Ende aller Zeiten die Natur des Menschen erforschen. Oder ich kann in meiner unsterblichen irdischen Hülle dem Pegel des Nils Jahr um Jahr dabei zusehen, wie er steigt und fällt. Außerdem brauche ich jenen Klageweibern, die an den Trauerzeremonien teilnehmen, nun nie Gelegenheit dazu zu geben, jammernd vor meinem Sarg zu stehen. Ich mag ihr professionell einstudiertes Weinen nämlich nicht. Schön sind nur Tränen, denen echte Gefühle zugrunde liegen. Es heißt, dass sie die edelsten Tränen von allen sind und sich in Bienen mit goldener Taille verwandeln, sobald sie die Augen verlassen. Allerdings habe ich solche Tränen in den vielen Jahren, die seither vergangen sind, nur ein einziges Mal zu Gesicht bekommen.
Dabei habe ich eine Menge seltsamer Dinge erlebt, Dinge der unterschiedlichsten Art. Von Ereignissen aus unserer Zeit, wie dem Bau des großen Leuchtturms von Alexandria, will ich gar nicht reden, sondern nenne als Beispiel lieber die wundersame Teilung des Roten Meeres, deren Augenzeuge ich gewesen bin. Die Leute, die es durchquerten, wurden von einem Mann angeführt, der sich Moses nannte und einen prachtvollen Bart besaß. Nach seinem Vorbild ließ ich mir dann auch so einen Bart wachsen. Dass genau diese Barttracht vor kurzem überall modern geworden ist, hat mich überrascht, obwohl Moden natürlich am leichtesten nachzuahmen sind. Die einzige Voraussetzung dazu ist eine gewisse Beschränktheit.
Apropos Beschränktheit: Anubis war unter den ägyptischen Göttern noch einer der wissbegierigsten. Allerdings hatte seine Neugier einen gewaltigen Nachteil. Und zwar interessierten ihn nur Dinge rund um das Thema Gut und Böse, gegenüber anderen Themen verschloss er seine Ohren. Man sollte unbedingt etwas mehr in die Breite studieren, hatte ich zu ihm gesagt, statt immer nur um die eigene berufliche Karriere zu kreisen. Aber nichts zu machen, er wollte einfach nicht hören. Wahrscheinlich waren alle Schakale solche unverbesserlichen Sturköpfe. Da bin ich selber schon aus anderem Holz geschnitzt, denn ich kenne mich in hundert Wissensbereichen bestens aus. Als Alexander der Große in die Stadt einzog, konnten die Ägypter, um ihn willkommen zu heißen, nur Beifall klatschen, während ich ihm für die geplante Bibliothek von Alexandria fast zehntausend Papyrus-Schriftrollen zum Geschenk machte und damit einen ganz wesentlichen Beitrag zum späteren hohen Renommee dieser Einrichtung leistete. Von da an entwickelte sich alles zu meiner Zufriedenheit. Eigentlich können die Ägypter uns Perser nicht leiden, aber da die Griechen mir nun äußerst dankbar waren und mich sogar mit der Leitung der Bibliothek betrauten, blieb den Ägyptern nichts anderes übrig, als sich bei mir lieb Kind zu machen. Ich vermute, auch mit der Popularität meines Ziegenbarts wollten sie mir Honig um den Bart schmieren. Glücklicherweise war mein Kontakt zu Anubis ein Geheimnis, von dem kein Außenstehender etwas ahnte, sonst hätten sich die Ägypter wohl noch mehr bei mir angebiedert.

An sich war also alles in bester Ordnung. Dennoch passierte mir ein dummes Missgeschick. Während ich mich gerade intensiv mit axiomatischen Fragen der Mathematik beschäftigte, begegnete ich im Raum mit den Nachschlagewerken zufällig dem größten grie­chischen Gelehrten der Gegenwart: Euklid. Unter seinem Einfluss gewöhnte es ich mir für eine Weile an, überall die Wahrheit um der Wahrheit willen auszusprechen. Und ausgerechnet zu dieser Zeit musste mir Anubis einen seiner obligatorischen Besuche abstatten. Da er sich nicht im Geringsten verändert hatte und immer noch der alte bornierte Dickschädel war, begann ich, angeheitert vom Dattelwein, darüber zu spotten, dass sein Job in Wirklichkeit doch ein riesengroßer Witz sei.
Nun besaß Anubis unter den ägyptischen Göttern die höchste Berufsmoral, daher wurde ihm jedes Jahr auch der Ehrentitel Skarabäus zuerkannt. Einmal hatte er in seiner Wohnung zu viele seiner Goldenen Käfer an die Wand gehängt, woraufhin die ganze Wand unter dem Gewicht der Verdienstorden einstürzte. Dass ich mich derart über ihn lustig machte, brachte ihn sofort auf die Palme. Er ließ nicht locker und fragte mich immer wieder, was ich damit sagen wolle …