Luo Lingyuan
Hochzeitsnacht im Jinmao-Tower
In der einen Ecke des Hotelzimmers stapeln sich die Geschenke, in einer anderen die Blumensträuße. Es ist nachts halb eins. Der Bruder der Braut drängt die Gäste zum Aufbruch. »Los jetzt, lasst sie wenigstens noch ein paar Stunden allein in ihrer ersten gemeinsamen Nacht!« »Kommt gut nach Hause!« Liu Meidai, ganz in Weiß, steht in der Mitte des großen Zimmers und winkt in die Runde. Die 31-jährige Computerwissenschaftlerin, Angestellte in einer privaten Shanghaier Softwarefirma, sieht normalerweise eher unauffällig aus. Heute wirkt sie hübsch und elegant. Ihre Hände stecken in weißen Handschuhen, die bis weit über die Ellenbogen reichen, und ihr rundes Gesicht ist von feinen Löckchen eingerahmt. »Angenehme Nacht, Yankee«, ruft einer der Gehenden dem Bräutigam zu, der genauso chinesisch aussieht wie er selber und alle anderen Anwesenden. »Tu deine Pflicht, wie sich’s gehört! Und wenn du nicht klar kommst, ruf mich an! Ich helfe dir gern weiter!« Stolpernd und lachend verlässt er das Zimmer, unter energischer Mithilfe des Brautbruders, der ihn am Ärmel packt und mit sich zieht. Die Tür schließt sich, aus dem Korridor dringt noch einige Momente lang sich entfernendes Gelächter, dann ist es still. Das Paar ist allein. Wanping, der eben noch getrunken und gescherzt hat, lässt sich aufs Sofa fallen. Sein Kopf sinkt auf die Brust. Er fühlt sich unwohl. Das Gemisch aus opulentem Abendessen und unzähligen Gläsern Wein macht seinem Bauch zu schaffen. Am liebsten würde er sich sofort ins Schlafzimmer zurückziehen. Doch die Braut flattert noch um die vielen bunten Geschenke herum, als wollte sie gleich anfangen zu tanzen. Wanping lockert seine Krawatte und wünscht sich sehnsüchtig, mit einer Handbewegung von ihr ins Bett entlassen zu werden. Wanping arbeitet als Chemiker in einer Arzneimittelfabrik in Baltimore in den USA. Vor Kurzem hat er die Greencard bekommen und ist sofort nach Shanghai gefahren, um zu heiraten. Meidai und er haben dort vor Jahren zur selben Zeit die Tongji-Universität besucht. Doch da sie in verschiedenen Fachbereichen eingeschrieben waren, haben sie damals kaum Notiz voneinander genommen. Nach dem Examen ist Wanping in die USA gegangen, um weiterzustudieren. Acht Jahre ist das nun her. Irgendwann hat seine in China zurückgebliebene Mutter begonnen, sich Sorgen um ihn zu machen, weil er immer noch keine Freundin hatte. Sie hat ihm Adressen von heiratswilligen jungen Mädchen geschickt, und mit einigen von ihnen hat er sich brav geschrieben. Meidais Briefe haben ihm am besten gefallen. Vor einer Woche ist er gekommen, fand, dass die Fotos, die sie ihm von sich geschickt hat, den Tatsachen weitgehend entsprachen, und nun sind sie verheiratet. »Was soll das denn heißen: Wenn ich nicht klarkomme, hilft er mir gerne weiter? Will er mir erzählen, wie du am besten zu nehmen bist oder was?« Viel weiß der Neu-Ehemann tatsächlich noch nicht von seiner Frau. Und schon gar nicht von ihrer Vergangenheit. »Lass ihn doch reden«, sagt Meidai beschwichtigend. »Der hat sich eben geärgert, weil du mich gekriegt hast und nicht er. Außerdem war er total besoffen. Komm lieber mal her zum Fenster und schau da hinunter! Unglaublich, diese Aussicht auf die Stadt!« Aber Wanping macht keine Anstalten aufzustehen. Mit stierem Blick starrt er in Richtung seiner ehemaligen Kommilitonin, die nun seine Ehefrau ist. Die Schleppe ihres Kleides ist besonders lang. Vor einer Stunde ist er darüber gestolpert, und alle haben sich totgelacht. Das sei ein Zeichen dafür, dass er unter der Fuchtel seiner Frau stehen werde, haben sie gesagt, und er hat sich Mühe geben müssen mitzulachen. Ständig hat Meidai an diesem Abend ein anderes Kleid angehabt, und Wanping hätte sie gerne in dem einen oder anderen etwas ausgiebiger bewundert. Aber ununterbrochen hat er anstoßen müssen, obwohl er die meisten der über hundert Gäste gar nicht kannte, und so sind die Blicke, die er auf seine Braut hat werfen können, immer nur kurz gewesen. Jetzt, wo alle weg sind, hat er endlich Muße, sie zu betrachten. Das Schleppenkleid in europäischem Stil, das Meidai im Moment trägt, liegt über der Taille eng an, wird von der Hüfte abwärts immer weiter und erreicht am Boden schließlich den Umfang eines runden Tisches für mindestens sechs Personen. Wanping findet, dass sie darin aussieht wie eine Prinzessin. Im Moment beugt sie sich gerade über einen großen geöffneten Koffer und glättet die anderen Kleider, die sie im Laufe des Abends getragen hat. Als sie damit fertig ist, geht sie wieder mit kleinen Schritten in Richtung Fenster. Doch was schaut unter dem Kleid hervor? Weiße, fleischige Därme, denkt Wanping zuerst erschrocken. Dann erkennt er, dass das edle Stück mit einer großen Menge gerafftem Stoff gefüllt ist, der bei jedem Schritt nach außen quillt. Solche Kleider, die einen gleich an weißes, zuckendes Fleisch denken lassen, hat Wanping bisher nur im Fernsehen gesehen, bei Can-Can-Tänzerinnen aus Paris, die sogar die Innenseite immer wieder nach oben gezogen haben, um die Sinne der Männer zu verwirren. Dass seine Braut ein solches Kleidungsstück gewählt hat, um ihm zu gefallen, schmeichelt ihm sehr. Eigentlich hat er nur eine ganz normale Frau haben wollen, doch jetzt hat er das Gefühl, einen Stern vom Himmel geholt zu haben. Er steht auf und geht mit schweren Schritten zu ihr hinüber. Der Blick aus dem Fenster ist wirklich überwältigend. Das Lichtermeer tief unter ihnen lässt die östliche Metropole Chinas wie einen riesigen, funkelnden Kristall erscheinen. Meidai breitet ihre Arme aus, als wollte sie die ganze Stadt umarmen. »Millionen liegen uns zu Füßen«, sagt sie und lacht. »Wollen wir morgen einmal ganz nach oben fahren? Dann sind wir noch zwanzig Etagen höher.« Wanping sieht nicht sehr begeistert aus. »Wie viele sind das dann?« »Achtundachtzig!« Unangenehm berührt schaut Wanping in die Nacht hinaus. Er schüttelt den Kopf. »Niemand würde in Amerika nach dem 11. September freiwillig in einem Wolkenkratzer übernachten. Aber hier in Shanghai fühlt ihr euch offenbar alle sehr sicher.« »Shanghai ist nicht New York.« Meidai schaut ihren Ehemann spöttisch an. »Hast du jetzt etwa weiche Knie bekommen bei dem Blick aus dem Fenster? Hoffentlich wirkt sich das nicht auch noch auf andere Körperteile aus.« »Du kannst ja mal nachgucken, wenn du es genau wissen willst. Und wenn du dich vorher ein bisschen frei machst, hat das sicher eine kräftigende Wirkung auf die anderen Körperteile.« Wanping beugt sich zu seiner Frau hin und zieht mit einem Ruck den Reißverschluss ihres Kleides herunter. Meidai schreit auf. Die schwungvolle Fahrt des Öffners hat an ihrer Hüfte ein abruptes Ende gefunden und ihr dort die Haut eingeklemmt. »Kannst du nicht ein bisschen aufpassen! Ich bin doch nicht aus Holz! Und das Kleid ist nur geliehen. Wenn was kaputt geht, kostet das gleich ein paar Tausend Yuan!« Nervös nestelt sie an dem Reißverschluss herum und versucht, ihn wieder in Ordnung zu bringen. Wanping kann ein Rülpsen nicht unterdrücken. Die Luft aus seinem Bauch riecht stark nach Alkohol. »Entschuldige. Ich wollte dir einfach nur schnell aus dieser Verpackung heraushelfen.« »Schon gut.« Meidai hat es geschafft, den Reißverschluss wieder zuzuziehen und bewundert sich nun von allen Seiten im Spiegel. Wanping gähnt mit weit aufgerissenem Mund. »Willst du nicht endlich diese Riesendestillierflasche ausziehen? Lass uns doch schlafen gehen.« Meidai hört nicht auf, sich vor dem Spiegel hin und her zu drehen. »Morgen, nach dem Fototermin, muss ich die Kleider zurückgeben. Alle konnten mich heute ausgiebig anschauen, nur ich mich selber nicht, weil ich ständig mit irgendwelchen Leuten anstoßen und reden musste. Jetzt will auch ich mich mal in Ruhe betrachten.« Resigniert lässt Wanping sich auf einen Stuhl fallen. »Dann trink ich eben noch was.« (…) |
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