Elfmal China Stadt – Leseprobe

Dai Lai

Bist du soweit?

Der Wetterbericht hatte Regenschauer angekündigt. Wan Shusheng stand am Küchenfenster, eine Zigarette zwischen den Fingern. In seiner unbeweglichen Miene konnte man bei genauem Hinsehen auch einigen Ernst entdecken. Obwohl es zu diesem Zeitpunkt schon dunkel geworden war, hatte es noch nicht geregnet. Glaube trotzdem daran, sagte Wan Shusheng zu sich selbst. Denn nur dann, wenn der Mensch an etwas glaubt, kann er in Ruhe und Frieden weiterleben. In seiner Jugend hatte Wan Shusheng daran geglaubt, sich eines Tages aus der Masse herausheben zu können. Daher war er stets gewissenhaft und anständig gewesen, hatte hart gearbeitet und alle Kräfte mobilisiert, obwohl sein Glück immer etwas zu wünschen übrig ließ. Mit 26 heiratete er ein Mädchen, das die Mutter für ihn ausgesucht hatte. Es war die Zeit, in der sich die Kulturrevolution gerade auf ihrem Höhepunkt befand und er tagsüber damit beschäftigt war, draußen auf der Straße Losungen zu brüllen, Wandzeitungen aufzuhängen und Revolution zu machen, die er abends, zurück in der Familie, fortsetzte. 1968 kam seine Tochter Weihong zur Welt. Offen gesagt war er ein wenig enttäuscht darüber, denn sein ältester Bruder, der drei Jahre vor ihm geheiratet hatte, war bereits Vater von zwei Söhnen geworden. Von klein auf hatte ihn der ältere Bruder in allem ausgestochen: Er war größer gewachsen, machte einen höheren Schulabschluss und hatte auch die hübschere Frau. Auf keinen Fall durfte er seinem Bruder daher auch noch, was die Kinder betraf, unterlegen sein. Die Schwägerin hatte anscheinend nicht die Absicht, noch einmal schwanger zu werden. Konnte er, Wan Shusheng, also als zweites Kind einen Sohn bekommen, würde er mit Sohn und Tochter zumindest »sortimentsmäßig« mehr zu bieten haben als die beiden. Über ein Jahr später wurde Wan Shushengs zweites Kind geboren, und wieder war es ein Mädchen. Diesmal sprang er vor Ärger in die Luft: Sollte er denn wirklich ohne Sohn bleiben? Da gab ihm ein alter Nachbar mit geheimnistuerischem Gesichtsausdruck einen Rat unter vier Augen: Entscheidend sei der Tag des Beischlafs. Sei es dem Mondkalender nach ein ungerader, komme leicht ein Mädchen dabei heraus; sei es aber ein gerader Tag, dann werde es fast immer ein Junge. Und weshalb, wollte Wan Shusheng wissen. Na sieh mal, sagte sein Gegenüber, eine Tochter nennt man im Volksmund »eintausend Pfund« und einen Sohn »eine Tonne«, also zweitausend Pfund. Die Eins ist ungerade, die zwei gerade. Bei noch genauerer Nachfrage schüttelte der Nachbar nur beharrlich den Kopf. Dieses Geheimnis dürfe er nicht verraten, sagte er, sonst würde Gott es ihm als Schuld anrechnen.Wie auch immer man die Sache beurteilen mochte, im Oktober 1972 hielt Wan Shusheng einen Jungen im Arm und gab ihm den Namen Shuangkuang, doppelter Wohlstand. Seit zwei Jahren merkte der alte Wan deutlich, dass er älter wurde. Besonders sein Gedächtnis war längst nicht mehr so gut wie früher. Er vergaß leicht Dinge, und manchmal, wenn er sich irgendeinen Gegenstand holen wollte, fing er mit einer ganz anderen Sache an, nachdem er sich gewohnheitsmäßig eine Zigarette angezündet hatte. Sein Sohn gab ihm insgeheim den Spitznamen »zerstreuter Gaul«, ja nannte ihn sogar manchmal, wenn er zu Freunden über ihn sprach, nur einfach den »alten Gaul«. Von seinen drei Kindern war es der Sohn, der dem alten Wan die meisten Sorgen bereitete. Sorgen, die einfach kein Ende nahmen und die, wenn man sie aufzählen wollte, bei jenen Unartigkeiten begannen, mit denen er als kleiner Junge Ärger gemacht hatte. Aber diese Geschichten waren wiederum nichts im Vergleich zu all den Vorkommnissen, die Shuangkang sich später leistete. An einem Sonntag im Herbst 1993 lief er auf der belebtesten Straße des Stadtzentrums vom Südende zum Nordende und dann wieder vom Nordende zum Südende, einen ganzen Tag lang. Dabei trug er ein T-Shirt, auf dem hinten in Schriftzeichen die Worte »Ich bin zu vermieten. Preis nach Absprache« aufgenäht waren. Am nächsten Tag schmückte ein Foto von Shuangkang die Titelseite der Abendzeitung. Aber das war erst der Anfang. In den folgenden Jahren nahmen seine Aktionen immer größere Ausmaße an. 1994, zur Kantoner Biennale, stellte sich Wan Shuangkang, der bereits eigenmächtig den Namen Wan Yi angenommen hatte, halbnackt in einen Glaskasten von 190 cm Höhe und jeweils 90 cm Länge wie Breite. Von oben bis unten hatte er sich erst mit Honig beschmiert und dann einen Krug geöffnet, der bis zum Rand mit allen möglichen Insekten, inklusive Fliegen und Flöhen, gefüllt war. Im Nu hatten die herausschwirrenden und -krabbelnden Tiere seinen ganzen Körper bedeckt. »Seinszustand« nannte Wan Yi sein Kunstwerk. Innerhalb dieser experimentellen Aktion, die vierzig Minuten lang dauerte, hatte er mit Hilfe einer Form der Selbstmisshandlung eine praktische Erfahrung zu seinem Wert und seiner Existenz machen wollen. In einem Interview mit einem Journalisten nach der Vorführung sagte Wan Yi, der bereits angeschwollen war wie ein aufgegangenes Dampfbrötchen allerdings, dass seine Erfahrung noch viel nachhaltiger gewesen wäre, wenn er die Zeit im Glaskasten um weitere 20 Minuten ausgedehnt hätte.

Vergangenen Monat hatte Wan Yi dann auf dem Friedensplatz der Stadt allen Ernstes 200 Kondome, bemalt in den verschiedensten Farben, an Passanten verteilt. Das Experiment, welches dieses Mal den Titel »Das bunte sichere Leben« trug, war von allen seinen Aktionen die liebenswürdigste, sinnlichste und auch erotischste. »Nur zum Spielen geeignet, auf keinen Fall benutzen«, fügte er jedes Mal als Warnung hinzu, wenn er ein Kondom verschenkte. Nachdem er zwei große Schachteln davon weggegeben hatte, lag der Platz daher dann auch voll von fortgeworfenen, bunten »Mini-Luftballons«.

Vielleicht hätte der alte Wan ohne diesen Sohn sein Lebtag nichts vom Begriff »Aktionskunst« erfahren. Dass man es allerdings fertig brachte, solchen verrückten Handlungen den Namen ‘Kunst’ zu geben, das wollte ihm partout nicht in den Kopf. Dennoch war der Sohn wegen dieser Experimente zum Künstler geworden, und gleichgültig, ob man ihn hier in China nun anerkannte oder nicht, fand sich sein Foto immerhin in ausländischen Zeitschriften. Zwischen jenen regenwurmähnlichen fremden Schriftzeichen, mitten dazwischen, waren zu seiner Überraschung Fotos von ihm abgebildet. Überdies war der Sohn schon etliche Male außer Landes gewesen, auf Einladung der Ausländer, um sich mit ihnen auszutauschen. Auszutauschen über was? Über Kunst natürlich.

Obgleich er gegenüber alten Kollegen und Nachbarn stets so tat, als ob er sich nun um nichts mehr zu sorgen brauche, da sein Sohn sich durch seine Leistungen bereits einen Namen gemacht hatte, war der alte Wan innerlich von einer ständigen Unruhe erfüllt. Er fürchtete, der Sohn könne eines Tages eine nicht wieder gutzumachende Dummheit begehen, und dieser Angst wegen hatte er oft Zahnschmerzen und schreckte regelmäßig mitten in der Nacht aus dem Schlaf hoch…

 

Bi Feiyu

Fernsteuerung

Ich wohne im berühmten Neuen-Jahrhundert-Hochhaus. Das symbolträchtige Gebäude in Sojasoßenbraun liegt auf der goldenen Meile unserer Stadt und hat insgesamt siebenunddreißig Stockwerke. Ich lebe im achtundzwanzigsten. Achtundzwanzig Etagen sind eine gute Höhe, um das Leben aus der Vogelperspektive zu betrachten. Von hier aus hat man einen exzellenten Blick. Wenn ich nichts zu tun habe, stelle ich mich auf den Balkon und schaue in die Ferne, die Stadt zu meinen Füßen. Die Menschen unter mir bewegen sich auf eine Weise vorwärts, die fast schon merkwürdig ist. Sonst sind nur Autos zu sehen. Den ganzen Tag brausen unzählige Wagen durch die Stadt. Im Grunde genommen ist eine Stadt nur ein gut durchgekneteter Klumpen Teig, der sich mit den Drehungen der Reifen ganz passiv nach allen Seiten ausdehnt. Unser Leben dagegen benötigt immer irgendein Zentrum, aus dem heraus es sich entwickeln kann. Das Neue-Jahrhundert-Hochhaus ist ein solches Zentrum. Es hat siebenunddreißig Stockwerke, und ich wohne im achtundzwanzigsten.

Zusammen mit anderen Gebäuden bildet das Neue-Jahrhundert-Hochhaus den nagelneusten Teil unserer Stadt. Der Lebensstil der Leute hier gibt seither für alle Bereiche den Trend an: Wie man sich bei uns kleidet, die Haare trägt und vor allem, welche Ausdrücke man im Alltag verwendet, ist immer der letzte Schrei, ist echte Avantgarde. Allerdings waren es die ganz alten Viertel dieser traditionsreichen Kulturstadt, in denen ich groß geworden bin. Meine Vorfahren hatten in unmittelbarer Nähe eines landschaftlichen Ausflugsziels zwei Immobilien besessen, zusammengenommen nicht mal 30 Quadratmeter Fläche, allerdings mit Front zur Straße hinaus. Ich vermietete sie an zwei Kunden, und seitdem führt der eine Laden Mal- und Schreibbedarf und antike Münzen, während der andere Jade, Steinwerkzeuge, Silberartikel und Keramik verkauft – all so Plunder eben, mit dem man Ausländer über den Tisch ziehen kann. Ich habe selbst mal miterlebt, wie eine zierliche Französin für einen Tuschestein eine Riesensumme Geld aus dem Fenster warf und dabei voller Begeisterung »Maus! Maus!« auf Chinesisch skandierte – wie ein Mädchen aus Sichuan mit dicker Zunge hörte sie sich an. Bei lebhaften Szenen wie dieser geht mir immer sofort das Herz auf.

Für meine Figur brachen vor mehr als zehn Jahren die Zeiten des Wohlstands an. Nachdem ich die beiden Häuschen erfolgreich vermietet hatte, begann ich zuzunehmen. Ich bin einen Meter siebzig groß, brachte aber bald 190 Kilo auf die Waage. Das gesamte Fett lagerte sich um meinen Bauch herum an. Wenn ich aufstehe, kann ich meine Füße nicht mehr sehen. 190 Kilo, dieses Gewicht hatte ich vor zehn Jahren. So sehen meine Lebensumstände aus: Ich bin fett und außerdem faul, und glücklich fühle ich mich nur, wenn ich dieser Faulheit in aller Ruhe weiter frönen kann, von nichts unter Druck gesetzt und ohne irgendwelche Pflichten am Bein. Ich nehme keine Verantwortung auf mich, genieße dafür natürlich auch keine Rechte, aber mein einziger Anspruch besteht ja darin, weiter faul sein zu dürfen und, indem ich nichts tue, weiter Fett anzusetzen. Von diesem Wunsch erfüllt, krempelte ich nach dem Einzug ins Neue-Jahrhundert-Hochhaus mein Leben vollständig um. Ich legte mir eine neue Wohnungseinrichtung zu, mit Elektrogeräten ausschließlich aus japanischer Produktion. Eine Sache war mir in diesem Zusammenhang von größter Wichtigkeit: Bei allen Geräten musste eine Fernbedienung dabei sein, alle mussten sich fernsteuern lassen. Denn Fernsteuerung bewirkt, dass die Kompliziertheit des Lebens einfach und klar durchschaubar wird und abstrakte Dinge leicht von der Hand gehen. Und gerade darin liegt doch letztlich der Sinn des menschlichen Daseins, oder?

Ich sitze auf meinem Sofa, genau genommen versinke ich darin, und lege die Fernbedienung neben die Zigaretten und meine Teetasse. Zuerst schalte ich den Fernseher an, um zu sehen, was auf der Welt passiert ist. Danach werfe ich zur Unterhaltung den DVD-Player oder den Videorekorder an. Natürlich besitze ich eine Musikanlage mit allem Drum und Dran, Stereosurround, der Klang kommt nicht nur von vorne, sondern schleicht sich, wie im realen Leben, manchmal auch von der Seite oder von hinten an einen heran. Das A und O für mich ist aber die Klimaanlage. Ich habe eine schwache Konstitution und fürchte Kälte und Hitze gleichermaßen. Aber da ich mich den ganzen Tag hinter meiner Klimaanlage verschanze, ist dieses Problem in Wahrheit schon gelöst. Gott hat die vier Jahreszeiten geschaffen, aber die Menschen haben Gott besiegt, auch indem sie sich selbst um die Jahreszeiten gekümmert haben. So wie es das Werbefernsehen sagt: ‘Leisten Sie sich eine Klimaanlage der Marke XY, und der Frühling wird Sie für immer begleiten’. Egal also, ob gerade Winter oder Sommer ist: Ein leichtes »Klick« meiner Fernbedienung genügt, und schon kann Gott nichts mehr ausrichten. Soll der Alte den Frühling doch verstecken, wo er will – ich schnappe ihn mir und binde ihn an meinem Sofa fest.

Eine Fernbedienung für den Fernseher, eine für den Videorekorder, eine für die Stereo- und eine für die Klimaanlage, dazu noch ein Mobiltelefon – das macht mein gesamtes Leben aus. Im Fernsehen verfolge ich aufmerksam die Werbespots, in der Hoffnung auf Deckenlampen, Geschirrspülmaschinen oder Lehnsessel, die sich fernsteuern lassen. Eines Tages wird es all das geben. Eines Tages wird unser Leben ganz von Fernsteuerungen dirigiert werden, das ist die große Richtung, in die wir unterwegs sind und zu der es keine Alternative gibt. Denn wenn wir per Fernbedienung schon den Frühling auf unser Sofa zwingen können, warum sollten wir dann nicht auch alles andere damit steuern? Tage des Glücks, die schon in naher Zukunft auf uns warten. Wenn es mal so weit ist, werden wir uns um nichts mehr zu kümmern brauchen, außer um unseren Herzschlag und das Blinzeln vielleicht…

 

Zhu Wen

Duanli in der alten Stadt Nanjing

Jetzt können wir endlich nach Herzenslust über Duanli reden. Denn sie ist am Himmel in diesem Augenblick, am Himmel! Sie hat zwei Beruhigungstabletten genommen und liegt, eingewickelt in eine Decke, in bewusstlosem Schlummer. Aus ihrem Mund hängt ein glänzender Speichelfaden. Für niemanden überraschend hat sie heute Mittag um halb eins eine Maschine der Air France mit der Flugnummer 285 von Peking nach Paris bestiegen. Ihre Flugnummer kenne ich deswegen so genau, weil ich für sie das Flugticket in Verwahrung genommen hatte. Und es haben ihr viele von uns dabei geholfen, auf dieses Ticket aufzupassen. Immer bevor Duanli mit dem Trinken anfing, musste sie ihren Pass und ihr Flugticket demjenigen übergeben, dem sie in diesem Moment am meisten vertraute. Erst dann konnte sie beruhigt und bis zur Bewusstlosigkeit so viel in sich hineinschütten wie sie wollte. Nie zuvor habe ich eine Frau getroffen, die so fröhlich trinken konnte wie sie. Ach, Duanli! Wollte man all diesen Alkohol aus Tränen bilden, dann hätte keine Frau auf dieser Welt mehr Wasser zum Weinen. Anfangs trank sie, weil und sooft es ihr Spaß machte, ohne je genug davon zu bekommen. Und wenn sie ihre letzten Gläser leerte, fand sich immer ein Gentleman, der bewusst zurückgeblieben war und geduldig auf sie wartete. Der sie dann nach Hause brachte und dort für sie sorgte, bis sie aufwachte, beide sich liebten oder er ihr noch bei einem kleinen Schluck Gesellschaft leistete. Später kam so etwas nicht mehr in Frage. Denn nachdem wir mit ansehen mussten, wie sich Duanli beim Trinken immer sonderbarer verhielt, begannen wir, uns unter Vorwänden davonzuschleichen. Und als sie dann wirklich in den Kneipen und billigen Nachtlokalen versumpfte, war oft niemand mehr an ihrer Seite. Aber sie ist ein eigensinniger und stolzer Mensch. Sie strengte sich an und fand allein den Weg nach Hause. Ein paar Mal schlief sie den Rest der Nacht im Treppenaufgang zu ihrer eigenen Wohnung. Ein paar Mal wäre sie beinahe vom Auto überfahren worden. Ein paar Mal eskortierte sie eine Polizeistreife nach Hause. Ein paar Mal wurde sie von einer Gruppe kleiner Ganoven heimbegleitet, die gerade aus der Disko kam. Und ein Mal hätte sie fast ein simpler, stämmiger Taxifahrer, der die Gelegenheit ausnutzte, zwei Mal vergewaltigt. Trotzdem gab sich Duanli weiterhin standhaft, ja empfindungslos, vergoss keine Träne. Sobald sie aber zurück in ihrer Wohnung war und die Tür hinter ihr zuging, konnte sie nicht länger durchhalten. Szene für Szene zogen dann mehr als zehn schwere Jahre ihres Lebens in Nanjing wie in einem Schwarzweißfilm an ihrem geistigen Auge vorüber, und ihre Traurigkeit überwältigte sie. Sie setzte sich dann an einen Tisch, knipste die Tischlampe an, stützte ihr Kinn auf die linke Hand und begann still zu weinen. Wenn sie weinte, war dabei nicht das geringste Geräusch zu hören. Stand man hinter ihr, sah es so aus, als sei sie in tiefes Nachdenken versunken, und je mehr sie nachdenke, desto tiefer versinke sie darin, und je tiefer sie versunken sei, desto weniger höre man sie. Wenn sie weinte, wischte sie nie ihre Tränen ab, aber trotzdem konnten keine auf den Tisch oder den Boden tropfen. Denn ihr Mund war sehr groß, noch größer, als man sich vorstellen kann. Und außerdem standen ihre Augen ziemlich nah beieinander, so dass alle Tränen, egal welchen Weg sie nahmen, zum Schluss immer in ihrem Mund landen mussten. Eben weil sie auf diese Weise nie eine davon einbüßte, hatte sie immer genug vorrätig, die sie fließen lassen konnte. Kugelrund und riesengroß waren ihre Tränen, und sie flossen sehr schnell und gleichmäßig. Wenn sie weinte, ließ sie sich nie gut zureden. Alle Versuche, sie aufzumuntern, waren da vergeblich. Ja, man konnte auf sie einreden, bis man schwarz wurde: Selbst die Fließgeschwindigkeit ihrer Tränen war dadurch nicht im mindesten zu beschleunigen oder zu bremsen. Nie zuvor habe ich eine Frau getroffen, die so ausdauernd weinen konnte wie sie. Ach, Duanli! Würden sich alle ihre Tränen in Alkohol verwandeln, dann könnte sich jeder Mann auf dieser Welt bewusstlos oder tot saufen. Am Himmel ist sie in diesem Augenblick, am Himmel. Und schätzungsweise durchquert sie gerade hoch in der Luft die Weiten Sibiriens, träumt von irgendwas und spricht ab und zu im Schlaf. Ob der Ort in ihrem Traum nun Paris oder Nanjing ist, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Aber wenn sie gerade im Schlaf redet, dann tut sie das ganz bestimmt im Nanjing-Dialekt, so viel ist sicher. Von uns Freunden spricht Duanli den ausgeprägtesten Dialekt. Unterhält sie sich zum Beispiel mit einem alten Schuster aus der Südstadt, könnte man beim ersten Hinhören meinen, sie sei eine alte Frau aus genau demselben Viertel. Dabei ist sie gar nicht aus Nanjing, ja sie kommt nicht einmal aus einem Vorort von Nanjing. Duanli kommt aus Sihong im Kreis Huaiyin, einer Stadt, in der Branntwein hergestellt wird und in der die Luft immer stark nach Trester stinkt. Dieser Geruch hat Duanlis Körper mit der Zeit durchdrungen. Natürlich kann man sie deshalb nicht direkt mit dem Trester vergleichen. Aber bevor man sie für ein wandelndes Glas Schnaps halten würde, wäre der Vergleich mit dem Trester schon treffender. Noch vor ein paar Jahren hatte sie gelegentlich auch Hochchinesisch gesprochen, meistens dann, wenn es um Kunst ging. Doch jedes Mal, wenn sie Hochchinesisch sprach, steigerte sie sich in eine starke innere Anspannung hinein, so dass ihr Nanjing-Akzent schließlich nur umso deutlicher zum Ausdruck kam. „Duanli, bring uns nicht zum Lachen“, meinte in einer solchen Situation mal jemand von uns, „komm, sprich lieber wieder Dialekt und quäl uns nicht.“Aber sie tat, als hätte sie nichts gehört, und redete auf Hochchinesisch weiter. So verhalf sie uns zu der Erkenntnis, dass dem Hochchinesischen und auch der Kunst immer ein Geruch nach Trester anhaftete. „Duanli, hast du gehört? Du sollst uns nicht quälen. Sprich wieder Nanjing-Dialekt!“ Aber sie reagierte immer noch nicht und hielt hartnäckig am Hochchinesischen fest, wodurch sie uns in einem weiteren Schritt zu verstehen gab, dass auch von uns selbst der unangenehme Trestergeruch ausging, ja dass wir selbst wie Trester waren. Womit sie uns alle schwer beleidigte…