Nachtschwimmen im Rhein – Leseprobe

Luo Lingyuan

Drei Nächte einer Frau


An einem Abend im April 1992.
Duanyue bemerkt, dass sie vor Müdigkeit einnickt, und steht vom Schreibtisch auf. Beim Durchqueren des Wohnzimmers gähnt sie vernehmlich. Auf schwankenden Beinen geht sie ins Badezimmer, putzt sich die Zähne, geht auf die Toilette, wäscht sich den Unterleib, trägt ihre Gesichtscreme auf, zieht den weißen Schlafanzug mit den roten Punkten an, der ihr bis zu den Knien reicht, und durchquert wieder ohne Umschweife das Wohnzimmer, als wäre dort niemand sonst.
Im Schlafzimmer geht Duanyue zum kleinen Bett ihres Sohnes in der Zimmerecke und deckt ihn gut zu. Dann geht sie zum Schreibtisch, klappt die darauf liegende Modezeitschrift zu, löscht die Schreibtischlampe und geht ins Bett. Die alte Uhr der Nachbarn schlägt „Dong, Dong, Dong…“ zehn Schläge.
Im Wohnzimmer sitzt Jianliang noch vor dem Fernseher. Es läuft ein Dokumentarfilm über den Fall der Berliner Mauer. Jianliang versteht kaum Deutsch, und außerdem schläft der Sohn bereits, so dass er den Ton ganz leise gestellt hat. Es klingt, als ob Leute in einem Nebenzimmer redeten. Als es im Schlafzimmer dunkel wird, dreht er sich um. Er steht vom Sofa auf, schaltet den Fernseher aus, geht ins Bad, macht im Wohnzimmer das Licht aus, tastet sich auf seinen Pantoffeln schlurfend ins Schlafzimmer und legt sich zu Duanyue ins Bett.
Er streichelt den Körper der neben ihm liegenden Frau. Aber die reagiert nicht. Er streichelt die empfindlichen Stellen ihres Oberkörpers. Duanyues Atem geht schwerer. Jianliangs Finger fassen die runde Knospe ihrer Brust. Der Atem, den sie gerade geholt hat, kann lange Zeit nicht mehr entweichen. Sie hält die Luft an, als fürchte sie Schmerzen.
„Morgen muss ich mit dem Chef zum Fotografen“, sagt sie. „Wir haben ein Shooting. Da muss ich fit sein. Lass es bitte nicht soweit kommen, dass ich keine Energie mehr dafür habe.“ Duanyues Stimme klingt abweisend.
Jianliangs Hand liegt bewegungslos auf ihrem Körper. „Dein Chef ist wirklich merkwürdig, warum holt er sich nicht eine seiner deutschen Freundinnen als Sekretärin?“
„Er braucht eben jemand, der die Korrespondenz mit den Lieferanten in Shanghai und Ningbo führen kann!“
„Aha, unsere Leute schuften Tag und Nacht, und der Kerl wird immer reicher! Und jetzt sollst du ihm auch noch als Fotomodell dienen! Ich finde, deine Arbeit als Assistentin sieht gar nicht wie Assistenz aus. Los, sag schon, was ist das für eine Position?“
„Modell zu sein, ist doch eine tolle Sache. So viele andere möchten das auch gern und schaffen es nicht. Außerdem studiere ich doch Modedesign, und wenn ich eine Chance als Mannequin bekomme, lerne ich viel über Mode“, sagt Duanyue. „Außerdem bekomme ich die Fotos extra bezahlt.“
Jianliang will nicht klein beigeben. Er kneift sie leicht in den Bauch. Duanyue dreht sich auf die Seite und kehrt ihm den Rücken zu.
Jianliang lässt nicht locker. „Als wir gestern in seiner Villa waren, hat er mir einfach nur die Hand geschüttelt, nicht wie bei dir. Dich hat er umarmt, links und rechts auf die Wange geküsst. Wie kann man als Chef so vertraulich mit seinen Angestellten verkehren? Da gibt es ja gar kein ‘Vorgesetzter und Untergebener’ mehr. Dabei ist der Kerl doch mindestens sechzig.“
„In Deutschland ist man eben lockerer als bei uns“, versetzt Duanyue gähnend. „Die Europäer sind alle so, wenn man sich kennt und angefreundet hat, umarmt man sich eben. Aber sag mal, du bist doch heute den ganzen Tag mit unserem Sohn im Zoo gewesen, bist du gar nicht müde?“
Jianliang lässt sich nicht ablenken. „Zieht er denn, wenn er morgens zur Arbeit kommt, jeden Mitarbeiter einzeln an seine Brust? Oder macht er das nur bei dir so?“
„In der Firma ist er zu jedem nett.“
„Aha, dann wird also doch nicht auf jede Wange geküsst“, sagt Jianliang mit einem Anflug von Verachtung. „Wieso hat er eigentlich gestern so viel über Taubendreck geredet und dabei so komisch gelacht? Ich dachte schon, dass ich mich verhört hätte. Er hat doch über Taubendreck geredet, oder?“
„Wenn du schon danach fragst, das war an dem Abend, als er und seine Freundin mich zum Essen eingeladen hatten. Gerade als ich aus dem Bus gestiegen bin, hat eine Taube etwas auf meinen Kopf fallen lassen. Als ich bei ihm ankam, war ich sehr verlegen. Ich musste gleich ins Bad und mir die Haare waschen. Sie haben sich darüber sehr amüsiert und gesagt, ich wäre ein Glückskind, aus mir könnte noch sehr viel werden.“
„Dieser Kerl ist wirklich ein wenig seltsam. Mit dir redet er über lustige Sachen, aber für seine Freundin scheint er sich kaum noch zu interessieren.“ Jianliang richtet sich auf und sitzt jetzt schräg im Bett.
Duanyue gibt keine Antwort.
„Dein Chef versteht es, Leute zum Trinken zu animieren“, fährt Jianliang fort. „Als du gestern gesagt hast, du wolltest nichts mehr, hat er dir gleich noch mal eingeschenkt und gesagt, einen so guten Champagner dürfe man einfach nicht stehen lassen. Und dann hat er dich angefasst und dir etwas zugeflüstert. Du warst wie hypnotisiert und hast brav getrunken. Als wir dann zu Hause waren, hast du den Kopf aufs Kissen geworfen und bist gleich eingeschlafen.“
Von Duanyue sind leise Atemgeräusche zu hören.
„Warst du jemals bei ihm zu Hause betrunken?“, fragt Jianliang und fasst nach ihrer Schulter. Duanyue schreckt hoch. „Was ist los?“, fragt sie schläftig.
„Warst du eigentlich schon mal betrunken, wenn er dich zu sich eingeladen hat?“
„So oft hat er mich gar nicht eingeladen. Ich war doch höchstens zwei, drei Mal bei ihm.“ Duanyue dreht sich erst einmal um und dann noch einmal, jetzt ist sie wieder so in die Decke gewickelt wie eben, nur noch etwas enger. „Du bist gerade erst einen Monat in Deutschland“, sagt sie. „Viele Dinge kommen dir deshalb merkwürdig vor, weil hier andere Sitten herrschen. Warte ein bisschen, dann wirst du die Dinge verstehen. Lass uns jetzt schlafen.“
Jianliang schüttelt sein Kopfkissen auf, legt sich hin und zieht die Bettdecke bis zum Hals hoch. Er wälzt sich hin und her, fühlt sich vom Kopfkissen auf beiden Seiten schwer bedrängt, zieht es wieder hervor und klopft es mit zwei Schlägen flach. Er schmiegt sich an seine Frau. Sein gekrümmter linker Fuß drängt sich zwischen ihre Beine, er fasst ihr Schulterblatt, während die andere Hand in ihren Schlafanzug kriecht.
Duanyue gähnt. „Ich hab keine Kraft mehr. Die ganze Woche arbeiten, dann bin ich am Wochenende k.o. Wenn du was von mir willst, dann musst du es selbst machen.“
Jianliang sagt nichts, ergreift eines von Duanyues Beinen und zieht es zwischen seine eigenen Beine. Er drückt die zusammengerollte Frau auseinander, sodass sie flach auf dem Rücken liegt. Die Hand des Mannes bewegt sich in schlängelnden Bewegungen zu ihrer Scham. „Dein Haar hier unten ist viel länger als früher“, sagt er.
Duanyue stöhnt leicht auf und zieht die Beine zusammen wie eine Süßwassermuschel, die bei Gefahr ihre Schalen schließt. „Sei bitte vorsichtig mit deiner Hand. Wenn du da unten drankommst, tut es mir immer so weh, als ob du Schorf von einer Wunde reißt.“
Der Mann wird ungeduldig. „Ich bin schon vorsichtig genug. Mittlerweile kommt es mir vor, als würde ich täglich Buddha meine Reverenz erweisen. Seit über einem Monat klagst du jeden Tag über Schmerzen, dass ich schon gar nicht mehr weiß, was ich tun soll. Kann es sein, dass du mich nicht mehr magst?“
Duanyue ergreift Jianliangs Hände und tastet unter der Bettdecke nach seinen Fingerspitzen. „Du hast dir nicht die Fingernägel geschnitten.“
„Das letzte Mal hatte ich sie geschnitten, da hast du auch über Schmerzen geklagt.“
„Das letzte Mal, bevor du ins Bett gekommen bist, hattest du sie zwar gerade frisch geschnitten, aber nicht glatt gefeilt. Kurz darauf war meine Haut glühend heiß, als wäre eine giftige Raupe darüber gekrochen. Wer kann deine Hände schon ertragen!“ Um ihm nicht das Gefühl zu geben, dass sie ihn abweist, öffnet sie ihm die Hände.
Jianliang lacht auf, wobei sein Lachen ein wenig verlegen klingt. „Na gut, beim nächsten Mal denke ich daran. In Ordnung, meine lang Entbehrte?“ Er bedeckt sie vorsichtig mit seinem Körper.
Nach einem Moment tiefer Stille läutet plötzlich das Telefon. Jianliang möchte weitermachen, aber es schrillt, als wolle es nie wieder aufhören. „Geh doch dran!“, keucht Duanyue und gibt ihrem Mann einen Stoß. „Sonst wacht Xiao Wu auf.“
Jianliang hört mit seinen Bewegungen auf. „Das ist bestimmt für dich. Geh lieber du!“ Er knipst das Licht an und rollt sich entmutigt von Duanyues Körper hinunter. (…)